Und über allem steht der Tag.

Und über allem steht der Tag.

Ich werde manchmal gefragt, ob mir die Synästhesie gelegentlich auf die Nerven gehe. Normalerweise antworte ich darauf, dass dem nicht so sei.

Doch heute Morgen schaute ich mir die übertürmten Tage an, die vor und hinter mir liegen, und mir wurde schlagartig klar: In meinen Stimmungen pendeln immer Tagesfarben mit. Die Tatsache, dass ich mich heute per se dienstagsgelb fühle, bevor die anderen Gefühle dazu kommen, hat schon manchmal etwas leicht lästiges, vor allem, wenn es nicht so läuft.

Sehe ich den restlichen Tag vor mir, dann sehe ich Gelb. Und das Oval der Tageszeiten. Der bevorstehende Broterwerb ist in dienstagsgelben Satin eingehüllt. Das klingt nun hübscher als es ist – ein wenig aufdringlich ist das nämlich schon.

Schaue ich zurück auf den gestrigen Tag, sehe ich zunächst das Schwarzlila des Montags und alle Geschehnisse vor diesem Hintergrund. Und die Tage, die sich vor mir auftun, leuchten schon abwartend und Pläne und Pflichten haben sich gemütlich in ihnen niedergelassen und winken mir zu (an ihrer jeweiligen Position zu der entsprechenden Tageszeit). Und dann kommt noch der Monatsüberbau hinzu und die Jahreszeit obendrauf.

Da können die Wochentagswesen aber nichts für! Sie sind an sich freundlich und machen nur ihre Arbeit, siehe „Das Sams“.

Aus vergessenen Gründen lernte ich das „Sams“ von Paul Maar erst kennen, als ich schon zu alt war, um das Buch noch gut zu finden. (Und noch zu jung, um es wieder gut zu finden). Zum Glück „musste“ ich es vorlesen.

Ich war sehr froh über die Erkenntnis: auch andere Menschen scheinen Wesen in Wochentagen zu entdecken. Und – natürlich sehen diese Wesen unterschiedlich aus – beim einen ist es vollkornknäckebrotbraun und ein geselliger Freund und beim anderen hat es rote Haare und erfüllt gerne Wünsche.

Ich will Herrn Maar keine Synästhesie unterstellen, so wie ich das auch bei Rilke nicht wagen würde. (Warum sage ich nicht auch Herr Rilke? Weil er tot ist? Verliert man das Recht auf eine Anrede, wenn man stirbt? Noch nie habe ich darüber nachgedacht).

Doch – wie bereits erwähnt – braucht man für eine erweiterte Wahrnehmung der Dinge keinerlei synästhetische Veranlagung. Fantasie und weitere Gefährte wie Sprachfreude, Denktänze, Gedankenakrobatik und Co sind vollkommen ausreichend.

Synästhesie ist schlicht eine Spielart der Natur – eine Variation der Sinneswahrnehmung. Toll, aber nicht die Lösung.

So werde ich nun diesen gelben Dienstag vollbringen, der schon vorwitzig zum Mittwoch schielt. Und vielleicht passiert ja etwas dominantfarbiges, das alles mit seinem guten Glanz überdeckt: schnurschön sollte es sein und darf gerne mit dem Buchstaben K beginnen.

Nachtrag 1: Es passierte noch etwas Glanzvolles. Und es hatte mit Kolleginnen zu tun.

Nachtrag 2: Hat nicht Max Goldt mal die Frage nach der Anrede und dem Sterben gestellt? Dann hätte ich darüber doch schon mal nachgedacht. Ich möchte nicht so dastehen, als würde ich anderer Leute Gedanken stehlen – daher: wer es weiß, der bekommt einen Preis von mir, z. B. eine farbliche Beschreibung seines Vornamens. Das hat doch auch nicht jeder.