Über Steine, Judo und den Rest.

Als Kind dachte ich, es sei eine große Leistung, Tabletten ohne Wasser zu schlucken. Ich habe zu mir gesagt: „Das ist wie barfuß auf Steinen laufen“. Für mich war das Wichtigste im Urlaub, Hornhaut zu bekommen, das war mindestens wie eine Kriegsbemalung beim Fasching. Das Gefühl im Hals war so schmerzhaft wie das Steinelaufen. Aber es machte mich stark; unbesiegbar waren die, die das aushielten.

Genauso war es beim Judo. Wir mussten uns in eine Reihe stellen und der Judotrainer boxte uns in den Bauch. Einmal habe ich nicht angespannt, da wurde mir schlecht. Das habe ich dann nie wieder vergessen. Es war wichtig, sich zu konzentrieren.

Sich einprägen, welcher Gegner stinkt. Den schnell besiegen, weil man ihn dann los ist.

Dann dieses schnelle Radfahren. Bis man flog. Ohne Helm, auf Sommerasphalt, wissen wollen, ab wann man schwitzt. Eine Schramme bekommen. Noch eine. Noch eine. Ein kleines bisschen stolz sein unter den Tränen.

Zu eitel für die Regenhose sein. Mit nasser Hose in der Schule sitzen. Dort merken, wie die Haut prickelt und heiß wird.

Immer eine Kastanie in der Tasche, immer was fühlen. Oder einen weichen Stein. Jedes Tier haben wollen, manche finden, nie welche durchbringen, weinen.

Ein Tier bekommen, das beißt.

Der Rest kommt ins Buch.

 

 

 

 

 

Welt in Kugeln und etwas über Urlaub.

Weil ich möchte, dass etwas schön ist, definiere ich Dinge oft zu meinen Gunsten, so auch Urlaub.

„Urlaub bedeutet, andere Problemstellungen als im Alltag zu haben.“

In diesem Urlaub habe ich mehrere bekannte und neue Argumente für diese These gefunden, die ich hiermit an die Wand schlage.

Zum Beispiel bedeutet Urlaub für mich, territoriale Machtspiele im Flugzeug mit Menschen mit erhöhtem Bedarf, ihre Gliedmaßen zu verteilen, auszufechten. Das kenne ich sonst auch, aber eben nicht im Flugzeug.

Zum Beispiel bedeutet Urlaub für mich, in einem Bus zu fahren, in dem eine Klimaanlage die Gliedmaßen aller – ob ausgebreitet oder nicht – blau verfärbt. Das kenne ich sonst nicht.

Zum Beispiel bedeutet Urlaub für mich, Kreuzworträtsel zu lösen und an den immer gleichen Fragen zu scheitern, z. B. dem süddeutschen Begriff für „Flur“. Zu Hause löse ich keine Kreuzworträtsel.

Zum Beispiel bedeutet Urlaub für mich, die notwendigen Meter weiter zu gehen, um dort zu sein, wo niemand ist.

Zum Beispiel bedeutet Urlaub für mich, die Welt vor mir ausgebreitet zu sehen und sie dann doch in eine Kugel zu fassen, weil ich es sonst vor Glück nicht aushalte.

Zum Beispiel bedeutet Urlaub für mich, laute und militärische Übungen nahe der Hotelanlage zu beobachten und mich in der Frage zu verlieren, womit man so einen Helikopter eigentlich tankt.

Zum Beispiel bedeutet Urlaub für mich, Sonne zu lieben und Sonne zu fürchten und deswegen Schatten zu suchen und Sonne zu sparen für das eine Bad im Meer, später, wenn die anderen schon fertig sind und dunkelbraun und schwerverbrannt.

Zum Beispiel bedeutet Urlaub für mich, zu wissen, dass es gut gehen wird, auch wenn rechts ein Abgrund ist und links ein Steinschlagberg. Oder umgekehrt. Auf der Rückfahrt.

Was schlimm ist: Ich weiß, dass zu viel von dem Schönen, das mir passiert, damit zusammenhängt, dass andere für zu wenig Geld zu viel schuften. Das ist nicht Urlaub, weil das auch sonst so ist.

Zum Beispiel bedeutet Urlaub für mich, Kargheit und Stille und Meeresrauschen und Sonne und Farben und Liebe und Bald und Noch und Mehr und Steine und Tiefe und Berge und Wolken und Musik und andere Musik und Straßen und Bäume und all das, was Welt sein kann, zu behalten. Das mache ich sonst auch, aber eben nicht hauptberuflich.

Letzteres ist keine Problemstellung, wie in meiner Definition, und trotzdem ist auch das Urlaub, aber eben darüber hinaus. Weil meine Definition nur dazu da ist, jederzeit zu wissen, ich bin hier im Urlaub, es ist Erholung, auch wenn die Telefonfrau neben mir sitzt, der sperrige Flugzeugmann seinen Arm in meine Taille sticht, um seiner Freundin Intimes ins Ohr zu flüstern, der Bus nie kommen wird, der Kofferträger melancholische Augen hat, ich niemals Griechisch sprechen können werde, mir Ziegen und Soldaten vor das Auto laufen, die reiche Erbtante sich beim Buffet vorschieben lässt, die Abendmusik lauter ist als alle Gedanken.

Es ist alles nur dazu da, anders zu sein als sonst.

 

 

 

 

 

 

 

So Sonntag.

Es ist so sehr Sonntag, dass es knallt.

Sonntag hat diese bestimmte Decke über dem Tag liegen, die aus Himmel besteht und aus Flugzeugen, die langsam fliegen. Die träger und anders klingen als sonst. Irgendwer kocht Rotkohl und das jeden Sonntag. Auch dessen Geruch liegt bleiern über den Dächern.

Früher wäre es nun an der Zeit gewesen, draußen einen Ball gegen die immer gleiche Wand zu treten. Oder zu werfen. Oder zu rollen.

Oder Murmeln.

Das machen wir jetzt mit Gedanken. Oder wir gehen spazieren. Später am Nachmittag wird das Sonntagsgefühl kommen, es trägt einen pinkfarbenen Bademantel und seufzt.

Wir könnten ihm ein Bad einlassen oder es zum Rotkohl einladen, dafür müssten wir welchen kaufen und dafür müssten wir eine Landpartie unternehmen.

Oder wir wählen den Ball und treten ihn gegen die immer gleiche Wand.

Über meine nackte Tastatur und Sanddorn.

Warum ich hier so leise bin, hat auch damit zu tun, dass ich etwas tue, das ich nicht wollte. Weil das nämlich alle machen. Aber nur weil es alle machen, heißt es ja nicht, dass ich darauf verzichten müsste, so wie Atmen ja auch hilft, obwohl es alle machen.

Ich schreibe etwas Längeres, vielleicht wird es ein Buch.

Das Buch hat ein Thema, dem ich mich nur selten nähern kann, weil es zu aufregend ist, bzw. meinem Erinnerungs- und Wahrnehmungszentrum sehr viel abverlangt. Der Titel ist bereits vorhanden und ausgesprochen lang, aber ich verrate ihn nur manchmal und nur manchen und möchte wissen, ob sie dann auch so aufgeregt sind.

Warum jetzt doch ein Buch, obwohl ich doch damals ganz klar gesagt habe, ich möchte keines schreiben?

Zunächst habe ich das Buchkostüm von der Tastatur gerissen, es in Tausend Teile zerfetzt, von dramatischer Musik flankiert, und es dann in alle Winde verstreut – begleitet von einem höhnischen Lachen. Dann habe ich beschlossen, meinen allgemeinen Persönlichkeitsgroove in die Buchstaben fließen zu lassen, auch wegen der Freiheit.

Das höhnische Lachen wird mir noch vergehen, wenn ich eines Tages „an Verlage herantrete“. Ich stelle mir vor, dass ich das mit einem Aktenkoffer tue, den ich noch kaufen muss, und dass das Manuskript mit Schreibmaschine geschrieben ist, die ich noch kaufen muss.

Eines ist klar. Es wird noch lange dauern – weil das zweite Lesen schier unerträglich ist. Und weil ich mehr und mehr Details entdecke und einfüge und weil jedes Wort wunderbar sitzen soll. Es soll ein Buch werden, über das sich niemand ärgern muss.

Klar ist auch: Das wird kein Internetbuch. Entweder ich finde einen Verlag, oder eben nicht. Dann bleibt es ein Schubladenbuch. Die Schublade muss ich auch erst einmal kaufen. Man muss offenbar viel kaufen, wenn man ein Buch schreibt.

Bleibt die Frage, warum ich dieses Beitragsbild gewählt habe. Ich hätte gerne noch etwas über Sanddorn am Blauhimmel geschrieben, etwas über die Lücken zwischen den Beeren und über die Bedeutung der Lücke zwischen den Dingen. Und darüber, wie schön die Welt sein kann, wenn man sie lässt. Aber das wäre mir zu neunmalklug gewesen, deswegen habe ich darüber letztendlich doch nicht geschrieben.