Wahrnehmung ist eine taumelnde Gazelle – über den Umgang mit synästhetisch veranlagten Kindern.

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Ich frage mich dieser Tage manchmal, was gewesen wäre, wenn in meiner Kindheit (während der 80er) Synästhesie schon ein allseits bekanntes Phänomen gewesen wäre. Hätte ich all die Wortwesen wirklich kennengelernt? In Ruhe stundenlang dem Geräusch des Haarebürstens gelauscht und die Striche vor meinen Augen verfolgt? Erlebte Geschichten von Wochentagen umarmen und für immer festhalten lassen? Hätte ich einfach so, ganz vertieft, die Wörter und Zahlen anschauen können, die sich vor mir aufbauten, einfärbten, Augen und Frisuren wachsen ließen und dann für immer so blieben?

Auf seltene Aussagen meinerseits zu Farben in Wörtern wurde glücklicherweise nicht anders reagiert, als auf andere Alltagsbeobachtungen. Sie gingen im Meer der vielen Äußerungen unter und wurden weder kleingemacht noch aufgebauscht. Meist wurde freundlich gelächelt und gesagt: “Ach, der Name ist blau? Du hast ja viel Phantasie.” Dass Synästhesie nicht das Gleiche ist wie Phantasie (schon farblich nicht, Synästhesie ist gelb mit Punkten und Phantasie schillerndmondfarben und schwarzlila), machte dabei nichts. Wichtig war: ich wurde nicht verwirrt. Ich merkte, dass es nichts Schlimmes ist, aber auch nichts Großes.

Da andere, kindliche Verwandte von mir auch synästhetische Anlagen hatten, gab es ausreichend geeignete Diskussionspartner auf Augenhöhe; manchmal endete es im Streit, doch es war wie mit allen Wahrnehmungssorten: “Was, du magst Erdbeereis? Was, die 8 ist rot? Du spinnst ja, Erdbeereis ist eklig und die 8 ist blau!”. Große Empörung allerseits und irgendwann die Erkenntnis: offenbar sind wir da unterschiedlich. Ist nicht schlimm. Ist eben so. (Hätte ich keinen Gesprächspartner für Synästhesie gehabt, wäre es auch nicht tragisch gewesen. Ich kann mich an höchstens vier Dialoge dieser Art erinnern, die nicht über einen kurzen Schlagabtausch hinausgingen. Viel wichtiger war, dass es Menschen gab, die sich für einen interessierten. Mit oder ohne Farben).

Es gibt inzwischen Studien, in denen es um die Frage geht, ob Hochbegabung und Synästhesie zusammenhängen, ob Autismus und Synästhesie miteinander einhergehen, ob bunte Magnetbuchstaben Kinder synästhetisch prägen und überhaupt, wie das zu fördern sei, weil man doch so bestimmt besser lernen könne. Oder schlechter und dann müsse man Benachteiligungen verhindern! Das mag alles sein, Forschung hilft, Forschung ist toll, Forschung muss sein. Doch was für Schlüsse werden wohl daraus gezogen für den Umgang mit Kindern?

Ich hoffe, dass diese Entwicklung nicht dazu führt, dass Synästhesie überbewertet wird und dadurch auf eine Bühne in Kindheiten kommt, auf der sie noch nicht stehen sollte. Ich hoffe, dass es keine Lehrkräfte gibt, die mit Vorwürfen überschüttet werden, weil die angebotenen Buchstabenfarben nicht individuell genug seien für die 3 Synästhetiker*innen pro Klasse. Umgekehrt hoffe ich, dass Lehrkräfte auf Farbäußerungen ihrer Schüler*innen möglichst gelassen reagieren. Ich hoffe, dass Eltern ihren Kindern Raum lassen, denn Synästhesie braucht einen inneren Raum, der erst einmal einem selbst gehört. Ich hoffe, dass Kinder nicht ausgelacht, aber auch nicht mit Lob dafür überschüttet werden. Denn: wenn Wahrnehmung zu stark bewertet wird, dann gerät sie ins Taumeln.

Die gute Nachricht ist: man versäumt nichts. Es ist eben nicht wie mit einer Fremdsprache, die früh genug gelernt sein will. Synästhesie passiert einfach. Sie tritt auf, sie ist mal stärker, mal schwächer und baut sich zeitgleich wie Sprache, Gedanken, Musikerinnerungen, Zahlenräume und Geräuscherfahrungen auf. Eines Tages ist es soweit und man erfährt, es gibt einen Namen für diese Selbstverständlichkeit! Es gibt noch mehr Menschen, die das haben!

Und wenn man einigermaßen fest im synästhetischen Sattel sitzt, kann man darüber schreiben, sprechen, Fragen beantworten und versuchen, einen Einblick in diesen Raum zu gewähren (wenn man das möchte). Weil man sich nun gut genug in ihm auskennt, weiß wo alles steht und halbwegs fertig eingerichtet ist. Und selbst dann bleibt die synästhetische Wahrnehmung eine zarte, manchmal taumelnde Gazelle. Die man anlocken kann, wenn man Glück hat, für das eine Foto, die eine Beschreibung, den einen Moment.

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